Donnerstag, 17. Januar 2019

[erundsie] {Rezension} Lolita - Vladimir Nabokov

Lolita
Vladimir Nabokov

Roman 
Klassiker
500 bis 700 Seiten

Erscheinungsdatum der Erstausgabe: 1955



Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.





Worum geht es?

 

Ein vierzigjähriger Professor verfällt einem zwölfjährigen Mädchen und setzt alles daran, ihr nahe sein und noch näher kommen zu können. Dabei schreckt er vor kaum einer Schandtat zurück und als sich die Umstände zu seinen Gunsten ändern und Lolita in seine Obhut treiben, beginnt eine Lebens- und Leidensgeschichte, die der Täter selbst niederschreibt.

Im Klappentext des Verlages wird von einem der größten Liebesromane der Weltliteratur gesprochen - eine anmaßende Frechheit, denn es geht in diesem Buch um Pädophilie, um Missbrauch und wie ein Mann ganze Leben zerstört, um seine Lust zu befriedigen. Mit Liebe hat das nichts zu tun, wie auch (vor allem später) im Buch deutlich wird.

Mein Freund und ich haben das Buch gemeinsam gelesen, uns darüber ausgetauscht und unsere Meinungen für euch niedergeschrieben.



SEINE MEINUNG

 


Ich hab auf verschiedene Arten gemischte Gefühle für das Buch. Beginnen wir mal beim Einfachen: dem Schreibstil. Ich finde im Großen und Ganzen ist das Buch sehr gut geschrieben mit immer wieder interessanten Stellen. Es wechselt von emotional aufwühlenden zu satirisch komischen, gar lächerlich wirkenden Szenen. Leider finden sich in dem über 500 Seiten langen Roman viele Abschnitte voller langweiliger Aufzählungen von Nichtigkeiten, die anscheinend versuchen, den Flair der USA um 1950 zu bekräftigen, diesbezüglich jedoch scheitern. Alles, was durch das Füllmaterial erreicht wird ist, dass die Spannung solange herausgezögert wird, bis jegliches Interesse zunichtegemacht worden ist. Nabokov schafft es letztendlich dann aber doch, den Leser mit Neugier weckenden Enwicklungen wieder einzufangen. 

Als nächstes zu den Charakteren. Der Protagonist, der sich selbst den Namen Humbert Humbert gibt, wäre sympathisch, wenn er nicht so unsympathisch wäre. Er zeigt in seinen Memoiren durchaus Humor und Wortwitz, scheint ein intelligenter Mann zu sein. Nur leider kann man über seine soziopathischen Züge nicht hinwegsehen. Andere Menschen sind ihm völlig egal, außer wenn sie zwischen ihm und seiner Befriedigung stehen.
In andere Charaktere einschließlich und besonders Lolita bekommt man nicht wirklich Einblick, da sie nur durch die Sichweise des "Wahnsinnigen" erscheinen. Letztendlich ist natürlich auch anzuzweifeln, wie verlässlich der Erzähler überhaupt ist. Lügen ist ihm nicht fremd, wie an der einen oder anderen Textstelle gezeigt wird. Er buhlt mit seiner kleinen Biographie um die Achtung des Lesers und stellt alles in einem ihn vorteilhaft erscheinend lassenden Licht dar.

Mein größter Kritikpunkt ist, bei solch einem heiklen Thema wie der Pädophilie, die Opferperspektive auszulassen, wie Dolores denkt und empfindet. Obwohl ihr Spitzname titelgebend ist, kommt sie selbst eigentlich nicht viel vor. Abgesehen von ihrem Körper, der in großem Detail beschrieben wird. Hier ein Flaum, dort ein Flaum... Es wäre wirklich sehr aufschlussreich gewesen, vielleicht am Ende ihre Sichweise einzubauen. So bleibt man mit spärlichen kleinen Gefühlregungen zurück, die im Rest des Buches beinahe untergehen.
Trotz der Tatsache, dass dies einen Missstand darstellt, war bezüglich der Erzählperspektive eigentlich nichts anderes zu erwarten. Schließlich sind es ja die Memoiren eines immer verrückter werdenden Triebtäters. Nicht nur für einige Entwicklungen des Plots ist es vonnöten, dass man (zumindest bis zum Ende) keinen Einblick in Dolores Gedankenwelt bekommt. Es muss auch für Humbert sein, dass er Lolita nur als Lustobjekt und Spielzeug betrachtet. Wenn sie ihre Meinung sagt oder einen (meist) unschuldigen Wunsch ausdrückt, sieht ihr Entführer sie nur als lästig und quengelig an. Würde er wirklich versuchen, ihre Emotionen zu verstehen, würde sein Selbstbild eines ja eigentlich anständigen Mannes wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Das ist auch das was am Ende passiert. Er verfällt völlig dem Wahnsinn.

Ich hätte mir allerdings ein deutlicheres Ende gewünscht, da es zu leicht als Verharmlosung interpretiert werden kann. Die Folgen von Humberts Taten werden nicht betrachtet und er selbst wird nie ausreichend bestraft. Sitzt er am Ende überhaupt "bloß" für den Mord oder wird er auch wegen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Entführung usw. angeklagt? Man erfährt es nicht.

Insgesamt würde ich jedem, der sich für menschliche Abgründe interessiert, empfehlen, das Buch zu lesen. (Es ist ja schließlich auch ein Klassiker.) Man sollte jedoch nicht erwarten, dass sich am Ende alles zufriedenstellend auflöst oder dass alle Perspektiven ausreichend betrachet werden. Nach der letzten Seiten bleibt ein mulmiges Gefühl zurück und man hofft, dass das vom Autor absichtlich so gestaltet worden ist.



IHRE MEINUNG



Die Geschichte ist problematisch, Nabokovs Schreibe allerdings sehr angenehm, was dazu führte, dass ich das Buch über die meisten Strecken genossen habe. Ich mochte im Gegensatz zu meinem Gastrezensenten auch die einseitige Erzählung, denn sie ließ anfangs noch etwas Spielraum. Ist Humbert tatsächlich verliebt? Ist Lolita frühreif? Mag sie ihn ebenfalls, so wie er es darstellen will? Kann sich da eine tiefe Liebe anbahnen zwischen ihnen? Und so weiter ... Denn obwohl das Buch ein Klassiker ist, wusste ich im Vorfeld nicht, was genau auf mich zukommt. So war für mich alles offen und alles möglich. Im Verlauf des Romans kristallisierte sich jedoch immer mehr Humberts schlechter Charakter und seine Triebhaftigkeit heraus, die einen dann auch schon mal schwer schlucken ließen, wenn er Dolores wieder einmal schlecht behandelte oder für seine Zwecke benutzte/manipulierte/unterjochte. Darüber hinaus verfällt er zunehmend dem Wahnsinn und geht über Leichen, um seinen Willen zu bekommen. Nabokov hat meiner Meinung nach gut rübergebracht, dass das Mädchen ihrem Entführer voll und ganz ausgeliefert ist - wenn auch nur zwischen den Zeilen, weil man Humberts Erzählung nicht immer trauen durfte

"Lolita" ist trotz einiger Schwächen, die schon angesprochen wurden, ein lesenswertes Buch, mit dem man sich allerdings auch im Nachhinein noch beschäftigen sollte, um die zarte Botschaft nicht im Nichts verhallen zu lassen.

Auch den Film mit Jeremy Irons und Dominique Swain in den Hauptrollen haben wir uns angesehen. Dieser war gefällig aufgemacht, doch wirkte durch eine Änderungen doch sehr verherrlichend dem Thema Pädophilie gegenüber.



Ein paar Worte zum Autor



Vladimir Nabokov war ein russisch-amerikanischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Schmetterlingsforscher. Er zählt zu den einflussreichsten Erzählern des 20. Jahrhunderts. "Lolita" ist sein bekanntestes Werk.  Mehrfach bekundete er, dass er Lolita – seinen dritten Roman auf Englisch, seinen zwölften insgesamt – besonders wertschätzte. Er brachte dem knapp 60-Jährigen den Durchbruch in seiner schriftstellerischen Karriere und befreite ihn vom akademischen Brotberuf.



Unsere Bewertung


Wie ihr seht, kamen wir trotz einiger unterschiedlicher Ansichten auf dasselbe Ergebnis. Solide 4 Sterne für Vladimir Nabokov und sein außergewöhnliches Werk, das provozieren will und soll - und dieses Ziel vor allem anfangs und bis heute nicht verfehlt.


Ein Klassiker, der sich mit menschlichen Abgründen beschäftigt und mit Vorsicht und Umsicht gelesen werden sollte.



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