Vladimir Nabokov
Klassiker
500 bis 700 Seiten
Erscheinungsdatum der Erstausgabe: 1955
Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.
Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.
Worum geht es?
Ein vierzigjähriger Professor verfällt einem zwölfjährigen Mädchen und setzt alles daran, ihr nahe sein und noch näher kommen zu können. Dabei schreckt er vor kaum einer Schandtat zurück und als sich die Umstände zu seinen Gunsten ändern und Lolita in seine Obhut treiben, beginnt eine Lebens- und Leidensgeschichte, die der Täter selbst niederschreibt.
Im Klappentext des Verlages wird von einem der größten Liebesromane der Weltliteratur gesprochen - eine anmaßende Frechheit, denn es geht in diesem Buch um Pädophilie, um Missbrauch und wie ein Mann ganze Leben zerstört, um seine Lust zu befriedigen. Mit Liebe hat das nichts zu tun, wie auch (vor allem später) im Buch deutlich wird.
Mein Freund und ich haben das Buch gemeinsam gelesen, uns darüber ausgetauscht und unsere Meinungen für euch niedergeschrieben.
SEINE MEINUNG
Ich hab auf verschiedene Arten
gemischte Gefühle für das Buch. Beginnen wir mal beim Einfachen:
dem Schreibstil. Ich finde im Großen und Ganzen ist das Buch sehr
gut geschrieben mit immer wieder interessanten Stellen. Es wechselt
von emotional aufwühlenden zu satirisch komischen, gar lächerlich
wirkenden Szenen. Leider finden sich in dem über 500 Seiten langen
Roman viele Abschnitte voller langweiliger Aufzählungen von
Nichtigkeiten, die anscheinend versuchen, den Flair der USA um 1950 zu
bekräftigen, diesbezüglich jedoch scheitern. Alles, was durch das
Füllmaterial erreicht wird ist, dass die Spannung solange
herausgezögert wird, bis jegliches Interesse zunichtegemacht worden
ist. Nabokov schafft es letztendlich dann aber doch, den Leser mit
Neugier weckenden Enwicklungen wieder einzufangen.
Als nächstes zu den Charakteren. Der
Protagonist, der sich selbst den Namen Humbert Humbert gibt, wäre
sympathisch, wenn er nicht so unsympathisch wäre. Er zeigt in seinen
Memoiren durchaus Humor und Wortwitz, scheint ein intelligenter Mann
zu sein. Nur leider kann man über seine soziopathischen Züge nicht
hinwegsehen. Andere Menschen sind ihm völlig egal, außer wenn sie
zwischen ihm und seiner Befriedigung stehen.
In andere Charaktere einschließlich
und besonders Lolita bekommt man nicht wirklich Einblick, da sie nur
durch die Sichweise des "Wahnsinnigen" erscheinen.
Letztendlich ist natürlich auch anzuzweifeln, wie verlässlich der
Erzähler überhaupt ist. Lügen ist ihm nicht fremd, wie an der
einen oder anderen Textstelle gezeigt wird. Er buhlt mit seiner
kleinen Biographie um die Achtung des Lesers und stellt alles
in einem ihn vorteilhaft erscheinend lassenden Licht dar.
Mein größter Kritikpunkt ist, bei
solch einem heiklen Thema wie der Pädophilie, die Opferperspektive
auszulassen, wie Dolores denkt und empfindet. Obwohl ihr
Spitzname titelgebend ist, kommt sie selbst eigentlich nicht viel
vor. Abgesehen von ihrem Körper, der in großem Detail beschrieben
wird. Hier ein Flaum, dort ein Flaum... Es wäre wirklich sehr
aufschlussreich gewesen, vielleicht am Ende ihre Sichweise
einzubauen. So bleibt man mit spärlichen kleinen
Gefühlregungen zurück, die im Rest des Buches beinahe untergehen.
Trotz der Tatsache, dass dies einen Missstand darstellt, war bezüglich der Erzählperspektive eigentlich nichts anderes zu erwarten.
Schließlich sind es ja die Memoiren eines immer verrückter
werdenden Triebtäters. Nicht nur für einige Entwicklungen des Plots
ist es vonnöten, dass man (zumindest bis zum Ende) keinen Einblick
in Dolores Gedankenwelt bekommt. Es muss auch für Humbert sein, dass
er Lolita nur als Lustobjekt und Spielzeug betrachtet. Wenn sie ihre
Meinung sagt oder einen (meist) unschuldigen Wunsch ausdrückt, sieht
ihr Entführer sie nur als lästig und quengelig an. Würde er
wirklich versuchen, ihre Emotionen zu verstehen, würde sein
Selbstbild eines ja eigentlich anständigen Mannes wie ein Kartenhaus
zusammenfallen. Das ist auch das was am Ende passiert. Er verfällt
völlig dem Wahnsinn.
Ich hätte mir allerdings ein deutlicheres Ende gewünscht, da es zu
leicht als Verharmlosung interpretiert werden kann. Die Folgen
von Humberts Taten werden nicht betrachtet und er selbst wird nie
ausreichend bestraft. Sitzt er am Ende überhaupt
"bloß" für den Mord oder wird er auch wegen
Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Entführung usw. angeklagt? Man
erfährt es nicht.
Insgesamt würde ich jedem, der sich
für menschliche Abgründe interessiert, empfehlen, das Buch zu lesen.
(Es ist ja schließlich auch ein Klassiker.) Man sollte jedoch nicht erwarten, dass sich am Ende alles
zufriedenstellend auflöst oder dass alle Perspektiven ausreichend
betrachet werden. Nach der letzten Seiten bleibt ein
mulmiges Gefühl zurück und man hofft, dass das vom Autor absichtlich so gestaltet worden
ist.
IHRE MEINUNG
Die Geschichte ist problematisch, Nabokovs Schreibe allerdings sehr angenehm, was dazu führte, dass ich das Buch über die meisten Strecken genossen habe. Ich mochte im Gegensatz zu meinem Gastrezensenten auch die einseitige Erzählung, denn sie ließ anfangs noch etwas Spielraum. Ist Humbert tatsächlich verliebt? Ist Lolita frühreif? Mag sie ihn ebenfalls, so wie er es darstellen will? Kann sich da eine tiefe Liebe anbahnen zwischen ihnen? Und so weiter ... Denn obwohl das Buch ein Klassiker ist, wusste ich im Vorfeld nicht, was genau auf mich zukommt. So war für mich alles offen und alles möglich. Im Verlauf des Romans kristallisierte sich jedoch immer mehr Humberts schlechter Charakter und seine Triebhaftigkeit heraus, die einen dann auch schon mal schwer schlucken ließen, wenn er Dolores wieder einmal schlecht behandelte oder für seine Zwecke benutzte/manipulierte/unterjochte. Darüber hinaus verfällt er zunehmend dem Wahnsinn und geht über Leichen, um seinen Willen zu bekommen. Nabokov hat meiner Meinung nach gut rübergebracht, dass das Mädchen ihrem Entführer voll und ganz ausgeliefert ist - wenn auch nur zwischen den Zeilen, weil man Humberts Erzählung nicht immer trauen durfte
"Lolita" ist trotz einiger Schwächen, die schon angesprochen wurden, ein lesenswertes Buch, mit dem man sich allerdings auch im Nachhinein noch beschäftigen sollte, um die zarte Botschaft nicht im Nichts verhallen zu lassen.
Auch den Film mit Jeremy Irons und Dominique Swain in den Hauptrollen haben wir uns angesehen. Dieser war gefällig aufgemacht, doch wirkte durch eine Änderungen doch sehr verherrlichend dem Thema Pädophilie gegenüber.
Ein paar Worte zum Autor
Vladimir Nabokov war ein
russisch-amerikanischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und
Schmetterlingsforscher. Er zählt zu den einflussreichsten Erzählern
des 20. Jahrhunderts. "Lolita" ist sein bekanntestes Werk.
Mehrfach bekundete er, dass er Lolita – seinen dritten Roman auf
Englisch, seinen zwölften insgesamt – besonders wertschätzte. Er
brachte dem knapp 60-Jährigen den Durchbruch in seiner
schriftstellerischen Karriere und befreite ihn vom akademischen
Brotberuf.
Unsere Bewertung
Wie ihr seht, kamen wir trotz einiger unterschiedlicher Ansichten auf dasselbe Ergebnis. Solide 4 Sterne für Vladimir Nabokov und sein außergewöhnliches Werk, das provozieren will und soll - und dieses Ziel vor allem anfangs und bis heute nicht verfehlt.
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